„Der Klang täuscht nicht“ Komponistin im Fokus Chaya Czernowin
Von Tamara Štajner
15.10.2025
„Ich habe früh gespürt, dass Musik mein Zuhause sein würde“, erzählt Chaya Czernowin. „Als mein Vater mir die zweite Stimme der russischen Lieder beibrachte, die bei uns stets gesungen wurden, war ich drei Jahre alt“, ergänzt die 1957 in Haifa geborene Komponistin, die in der aktuellen Saison im Fokus des Musikvereins steht. „Wäre das Leben anders verlaufen, hätte mein Vater wohl Musiker werden können. Er liebte Musik und hatte ein bemerkenswertes Gehör, das er mir vererbte. So ließ er mich damals diese komplexere Stimme übernehmen, während die Übrigen die Melodiestimme zu seinem Akkordeonspiel sangen.“
Und die Familie sang diese Lieder in einer engen Wohnung in Kyriat Haim, einem winzigen Vorort von Haifa. Ihre Eltern, Juden aus polnisch und ukrainisch geprägten Gebieten, waren kurz nach der Gründung Israels dorthin emigriert.
„In unserem Wohnhaus lebten vier Familien, allesamt Holocaust-Überlebende. Vor dem Haus erstreckte sich ein großes sandiges Gelände. Das Meer war etwa zwanzig Gehminuten entfernt, und direkt am Strand standen riesige Wohnsiedlungen, ein bisschen wie Slums. Damals waren die nicht religiösen Juden in Israel die Mehrheit. Menschen wollten ein liberales, harmonisches Land schaffen. Auch wir lebten unorthodox. Ich sprach Hebräisch, meine Eltern untereinander Jiddisch, was ich zwar verstehen, aber nicht sprechen konnte – und wenn sie wollten, dass ich gar nichts verstehe, dann sprachen sie Russisch“, erzählt die Komponistin am Tisch eines Wiener Kaffeehauses. Hier in Wien übernahm sie 2006 als erste Frau überhaupt eine Professur für Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst, bevor sie 2009 nach Boston (USA) umgezogen ist und an die Harvard University berufen wurde, wo sie seitdem die Walter-Bigelow-Rosen-Professur für Musik innehat.
Der Weg zur Komponistin war keine plötzliche Eingebung, sondern ein gradueller Prozess, der sich im Alter von dreizehn Jahren abzeichnete, in dem sie progressive Rock-Songs mit ungewöhnlichen Harmonien schrieb. Die Musik wurde zu einer Zuflucht für die junge Israelin, die später an der Rubin Academy in Tel Aviv studierte. Danach verließ sie mit fünfundzwanzig Israel und setzte das Studium in Deutschland (DAAD-Stipendium) und in den USA fort. Sie erhielt ein Künstlerstipendium der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart sowie das Asahi-Shimbun-Stipendium in Japan, ein renommiertes Förderprogramm, das vier Künstler:innen unterschiedlicher Fachbereiche aus aller Welt ermöglichte, in Japan zu leben und zu arbeiten, wo sie schließlich drei Jahre blieb.
„Als Teenagerin versuchte ich mit der Musik alles zu greifen, was ich in meinem Umfeld erahnte, aber nicht meines war – die unaussprechlichen Traumata meiner Eltern zum Beispiel. Es war wie eine Lücke, in die ich versuchte, einzudringen“, resümiert Czernowin, deren Werk sich später zu einem dicht verflochtenen, körperlich erfahrbaren, skulpturalen Klangfeld entfalten sollte, vom multisensorischen Gehalt durchdrungen und auf einen klanglichen Ausdruck hinsteuernd, der das Unbewusste einschließt und sich über Stil, Konventionen und Rationalität hinausbewegt.
Am 25. November wird das zweiteilige A-cappella-Stück „Immaterial“ (2021/22) für sechs Stimmen in Kooperation mit Wien Modern im Goldenen Saal zu hören sein – mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart, die das Werk in Auftrag gegeben haben. „Immaterial“ bildet nach „Poetica“ und „Unhistoric Acts“ einen kühnen, radikalen Abschluss des großangelegten Triptychons „Vena“ (lat. Ader). Das Werk besteht aus einem „A-cappella-Buch von Madrigalen“ und einem „Klangtheater“ und wurde von Czernowin als „spekulative Oper“ konzipiert. Hier entwirft sie jenseits von Sprache und Handlung ein beispielloses Klangtheater, in dem Unsagbares hörbar wird: „Es ist ein Sprung hin zu einer neuen Form des Ausdrucks: äußerst direkt und körperlich – bis zu dem Punkt, wo es in einem sinnlichen Drama nackter Empfindungen gipfelt.“
Die Stimme wird nicht als Mittlerin von Sprache verstanden, sondern als Medium einer sinnlichen Dramaturgie, die sich jeder Lexik entzieht und dadurch neue Räume der Wahrnehmung erschließt. „Eine Art Butoh der Stimme“, merkt Czernowin mit Hinweis auf das japanische Tanztheater an. „Hätte ich jemals ein wirkliches Manifest geschrieben – ein Antimanifest –, dann wäre es vielleicht genau das gewesen! Für eine Musik jenseits narrativer Ordnung“, fügt sie hinzu.
Chaya Czernowins Werk, das unter anderem Kammer- und Orchesterstücke (mit und ohne Elektronik) umfasst und weltweit von führenden Orchestern und Interpret:innen Neuer Musik aufgeführt wird, erhielt den Förderpreis der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung (2003), den Preis der deutschen Schallplattenkritik (2016) sowie den GEMA-Musikautor:innenepreis (2022), um nur wenige zu nennen. Sie wurde in die Akademie der Künste in Berlin (2017) und in die Bayerische Akademie der Schönen Künste in München (2021) aufgenommen. Darüber hinaus war sie Artist in Residence unter anderem bei den Salzburger Festspielen (2005/06), beim Lucerne Festival (2013) und beim Huddersfield Contemporary Music Festival (2021).
„Der Klang täuscht nicht“, betont Chaya Czernowin. „Im Klang zeigt sich die Seele des Werks. Jedes Werk ist ein eigenes Lebewesen mit eigener Existenz, eigenem Geruch, eigener Textur. Meine Musik ist eine Sache des Lebens – in all seinen verschiedensten Formen, mit all seinen Kuriositäten und unverhofften Fügungen. Ich will große Extreme umarmen und schone mich dabei nicht. Ein schönes, abgeschlossenes Produkt interessiert mich nicht. Ich will dem Publikum ein Erlebnis bescheren – etwas Lebendiges.“
Am 2. November bringt das Arditti Quartet das Stück „Ezov“ (2024) als österreichische Erstaufführung in den Brahms-Saal. „Ich komponierte es in einer schicksalhaften Zeit, voller Leid. ‚Ezov‘ öffnet sich dem Versuch, Hoffnung zu finden.“
Mit dem hebräischen Begriff „Ezov“ verbindet Czernowin eine moosige Heilpflanze, die im Judentum auch für rituelle Reinigungen Anwendung findet und unter anderem im Psalm 51 genannt wird. Sie betrachtet „Ezov“ als eine Metapher für die Kraft des Arditti Quartet, das sein 50-jähriges Bestehen feiert und dem das Werk gewidmet ist.
Mit symbolisch gedeihender Vegetation geht es am 20. November weiter: „Black Flowers“ (2018) für elektrische Gitarre ist von einem Zitat des französischen Philosophen Gaston Bachelard inspiriert: „Schwarze Blumen erblühen in der Finsternis der Materie.“
Drei Tage später, am 23. November, durchforscht Czernowin mit dem Stück „Fast Darkness III“ (2022) die Finsternis. Im Weiteren stehen „Afatsim“ (1996) und „Sheva“ (2007) auf dem Programm, beides Werke für gemischtes Ensemble.
Meine Musik ist eine Sache des Lebens – in all seinen verschiedensten Formen, mit all seinen Kuriositäten und unverhofften Fügungen.
Später in der Saison, am 27. März 2026, erklingt im Goldenen Saal mit dem ORF RSO Wien und Maxime Pascal „NO! A lament for the innocent“ (2024) als österreichische Erstaufführung. Das Werk ist ein musikalischer Aufschrei gegen politische Gewalt und das systematische Zerreißen von Familien – entstanden unter dem Eindruck der gewaltsamen Trennung von Kindern und Müttern durch die Trump-Regierung. Seither hat sich in den Augen der Komponistin dieser Schmerz ausgeweitet: „Auf die Situation in Israel, in Gaza und im Westjordanland, auf palästinensische und israelische Opfer.“ Auch hier macht sie Klang zum Medium einer kaum aussprechlichen Erfahrung: „‚NO!‘ ist ein wahres Proteststück. Ich bin Mutter. Ich bin ein Mensch“, betont Czernowin, „ich musste in meiner Arbeit ,Nein!‘ sagen.“
„Manchmal denke ich, Czernowin ist unsere größte lebende Komponistin. Sicher ist, dass ihr Werk regelmäßig Staunen, Verwirrung und Ehrfurcht auslöst – verlässliche Anzeichen dafür, dass Größe am Werk ist“, kommentierte Alex Ross unlängst in „The New Yorker“.
Ebendies spürt man auch an der Klarheit, mit der Chaya Czernowin den gewandelten Stellenwert von Neuer Musik selbst begreift: „Sie hat einerseits nicht mehr die Rolle, die sie früher einmal hatte, und gleichzeitig ist sie unerlässlich, um die Erlebnisse unserer Gegenwart verarbeiten zu können.“
Einen Überblick über die Konzerte im Programmschwerpunkt mit Chaya Czernowin finden Sie hier.