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Als im Winter noch die Zähne klapperten

© Fondazione Musei Civici di Venezia
Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ und der Klimawandel. Antonio Vivaldi lebte mitten in der „Kleinen Eiszeit“. Seine musikalische Schilderung des Jahreskreises würde unter den heutigen klimatischen Gegebenheiten wohl anders ausfallen. Bleibt abzuwarten, welche Wetterverhältnisse Leonidas Kavakos im November in Wien vorfindet, wenn er den Solopart des populären Werkes im Musikverein spielt.

Von Martin Kugler

25.10.2025

Antonio Vivaldi stellte seinem 1725 veröffentlichten Violinkonzert-Zyklus „Le quattro stagioni“ ein detailliertes Programm voran – vier kunstvolle Sonette, in denen die Jahreszeiten porträtiert werden. Im „Frühling“ werden unter anderem der fröhliche Gesang von Vögeln, Bachrauschen, eine liebliche Blumenwiese mit schlafendem Hirten und ein Tanz zu Dudelsackklängen geschildert. Der „Sommer“ ist geprägt von der unbarmherzigen Sonne, unter der Mensch und Herde schmachten, vom Klang von Kuckuck, Turteltaube, Distelfink, Fliegen und Hornissen, aber auch von einem furchterregenden Unwetter mit Blitzen, Donner und Hagel. Im „Herbst“ feiern die Bauern eine reiche Ernte, und Jäger gehen mit Hörnern, Gewehren und Hunden auf die Jagd. Im „Winter“ schließlich entfliehen die Menschen zähneklappernd dem eisigen Schnee zu einem Kaminfeuer, und manche vergnügen sich beim Eislaufen.
Was Vivaldi in seiner Musik hör- und spürbar macht, spiegelt die Natur im Jahreskreis und insbesondere den Umgang des Menschen mit den unterschiedlichen Witterungen wider. In groben Zügen dürfte das Leben der Menschheit mit den Jahreszeiten von alters her ähnlich sein – man genießt den Frühling, fürchtet sich vor sommerlichen Gewittern, feiert eine gute Ernte und zieht sich im Winter in die warme Stube zurück. Doch im Detail ändert sich vieles über die Zeiten – nicht nur was unsere Lebensgewohnheiten betrifft, sondern auch hinsichtlich Wetter und Klima.

Vivaldi lebte vor 300 Jahren in einem völlig anderen Klimaregime, nämlich mitten in der sogenannten „Kleinen Eiszeit“: Beginnend mit dem 14. Jahrhundert war es in der nördlichen Hemisphäre deutlich kühler geworden. Die Ursachen dafür waren natürliche Schwankungen, wie etwa eine veränderte solare Einstrahlung oder Verschiebungen von atlantischen Meeresströmungen. Dadurch wurde das sogenannte „mittelalterliche Klimaoptimum“, in dem zum Beispiel Weinbau hunderte Kilometer weiter nördlich möglich war, von einer gut 450 Jahre dauernden Zeitspanne mit einem um mehrere Grad kälteren Klima abgelöst. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich die „Großwetterlage“ deutlich, und die Welt wurde wieder wärmer – bevor sie sich nun aufgrund der menschengemachten Treibhausgasemissionen regelrecht erhitzt.

© Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
© Marco Borggreve

Ein Vivaldis Generation prägendes Jahr war sicherlich 1709, als in weiten Teilen Europas fast zwei Monate lang klirrende Kälte herrschte, viele Obst- und Olivenkulturen erfroren und die Lagune in Venedig dick vereist war.

Die Folgen der Abkühlung waren dramatisch, sie reichten von frostigen Wintern und verregneten Sommern mit fatalen Missernten über Hungersnöte, ökonomische Verwerfungen und politische Krisen bis hin zu verheerenden Seuchenzügen und fürchterlichen Kriegen. Historiker haben freilich auch eine andere, weniger negative Seite identifiziert: Die fortwährenden Wetterunbilden und Krisen beflügelten auch die Anpassungsfähigkeit des Menschen und seine Erfindungsgabe: Für viele Probleme, wie etwa die gesunkenen Ernteerträge in der Landwirtschaft, wurden neue Lösungen gefunden, die schließlich auch die Basis für das Werden der „modernen“ Welt wurden.
Die Bezeichnung „Kleine Eiszeit“ suggeriert, dass es sich um einen einheitlichen Block von Jahrzehnten und Jahrhunderten handelt, in dem es einfach „nur“ kälter war. Dieses Bild ist zu simpel: Vielmehr veränderte sich die Witterung oft sprunghaft von Jahr zu Jahr, und überdies gab es lokal sehr unterschiedliche Ausprägungen.
Woher weiß man das so genau? Historiker und Klimaforscher haben in den vergangenen Jahrzehnten das Klima der Vergangenheit rekonstruiert. Sie stützen sich dabei zum einen auf natürliche Phänomene (etwa Sedimentablagerungen, Eisbohrkerne oder Jahresringe von Bäumen) und zum anderen auf historische Quellen (beispielsweise Tagebücher, Kirchenchroniken, Aufzeichnungen zum Start der Weinernte oder Gemälde wie etwa Brueghels’ Winterlandschaften oder die Venedig-Veduten Canalettos und Bellottos). Darüber hinaus gibt es seit Mitte des 17. Jahrhunderts systematische Messungen und Aufzeichnungen des Wetters. Aus all diesen Daten wurde in minuziöser Kleinarbeit eine tausendjährige Zeitreihe von Durchschnittstemperaturen und Niederschlägen erstellt.
Für die ersten paar Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts – also jene Zeit, die der Komposition der „Vier Jahreszeiten“ voranging – ergibt sich daraus folgendes Bild: Nach einem äußerst sprunghaften 17. Jahrhundert wurde das Wettergeschehen deutlich ruhiger und gleichmäßiger. Die Winter waren meist sehr kalt, warme Winter traten nur selten auf. Die Frühjahre waren hingegen wärmer, der Schnee schmolz relativ früh weg. Die Sommer waren in der Mehrzahl der Jahre warm, aber nicht allzu trocken. Und die Herbsttemperaturen waren vergleichsweise niedrig. Ein Vivaldis Generation prägendes Jahr war sicherlich 1709, als in weiten Teilen Europas fast zwei Monate lang klirrende Kälte herrschte, viele Obst- und Olivenkulturen erfroren und die Lagune in Venedig dick vereist war.
Angesichts dieser veränderten klimatischen Gegebenheiten kann man sich die Frage stellen, ob Vivaldi seine „Jahreszeiten“ anders komponiert hätte, hätte er in einem Klima wie dem heutigen gelebt. Eines lässt sich auf jeden Fall feststellen: Der Winter würde völlig anders klingen. Weder die kältestarrende, zitternde Atmosphäre noch das Stapfen im Schnee und erst recht nicht die Eislaufszenen auf der zugefrorenen Lagune würden einen gegenwärtigen Winter adäquat beschreiben. (Das letzte Mal war die Lagune übrigens im Jahr 1956 zugefroren.)

Viele Veränderungen des Klimas und der Umwelt sind indes wesentlich subtiler. Einen innovativen Weg, diese zu identifizieren und zum Klingen zu bringen, beschritt vor einigen Jahren das Projekt „The [uncertain] Four Seasons“, das im Rahmen der Kampagne United Nation Act Now durchgeführt wurde. Dabei arbeiteten Komponisten, Musiker, Datenwissenschaftler, Softwareentwickler und Klimaforscher zusammen, um auf Basis von IPCC-Klimaprognosen für das Jahr 2050 mit Hilfe von künstlicher Intelligenz neue Versionen der „Vier Jahreszeiten“ für verschiedene Erdteile zu erstellen. Mehr als ein Dutzend professionelle Orchester haben bereits „ihre“ regional spezifischen Varianten aufgeführt – übertragen unter anderem auf Arte, zu finden auch auf Youtube bzw. der Website des Projekts.

Natürlich ist es hochspekulativ, ob Vivaldi das alles auch so gesehen und gehört haben würde. Doch es ist durchaus interessant und erhellend. In den „Re-Kompositionen“ zu erfühlen sind unter anderem intensivere Sommergewitter, eine gesunkene Biodiversität von Vögeln und Insekten (weniger Triller, fehlende Töne), versiegende (also stumme) Bäche oder der steigende Meeresspiegel (bisweilen als wummerndes Grundgrollen). Insgesamt sind die Zukunftsversionen der „Jahreszeiten“ aggressiver, im „Winter“ versinken manche hingegen in dissonanter Verzweiflung und stummer Agonie. Und die immer heißer werdenden Sommer äußern sich in breiteren, lethargischeren Noten – und in einer längeren Spieldauer des „Sommer“-Konzerts.

Sonntag, 16. November 2025

Leonidas Kavakos I Leitung und Violine
The Apollon Ensemble

Johann Sebastian Bach
Sonate für Violine und Basso continuo e-Moll, BWV 1023
Sonate für Violine und Basso continuo c-Moll, BWV 1024
Sonate für Violine und Basso continuo G-Dur, BWV 1021
Antonio Vivaldi Violinkonzerte „Le quattro stagioni“ (Die vier Jahreszeiten)

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